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Bericht über einen Feldforschungsaufenthalt auf Rodrigues

Touring Cultures: Changing Representations of Self and Other in the Tourism Context of Rodrigues Island

06.01.2009 - 24.07.2009

von Carsten Wergin

Blick vom Mt. Limon / Rodrigues in Richtung Süden. © C.W.

Blick vom Mt. Limon / Rodrigues in Richtung Süden. © C.W.

Blick vom Mt. Limon / Rodrigues in Richtung Süden. © C.W.

   Im Rahmen meines Forschungsprojekts an der Graduiertenschule bekam ich von Januar bis Juli 2009 die Möglichkeit zu einem Feldforschungsaufenthalt auf der Insel Rodrigues im südwestlichen Indischen Ozean. Rodrigues gehört zur Republik Mauritius, erhielt jedoch am 20. November 2001 einen Autonomiestatus, der es dem Chief Commissioner in Absprache mit der Regional Assembly ermöglicht, über ein jährlich von der mauritischen Regierung genehmigtes Budget zu verfügen. Der Großteil der etwa 35 000 Einwohner der Insel spricht ein für die Insel spezifisches Kreol. Englisch und Französisch werden hauptsächlich in administrativen Zusammenhängen gebraucht.

Rodrigues lässt sich als eine ‚Insel in Bewegung‘ beschreiben. Ihre Kultur wird von Menschen gelebt und gestaltet, die erlernte und neu erfahrene Vorstellungen des Eigenen und Fremden in einem fortwährenden Prozess weiterverarbeiten. Diese Heterogenität erforsche ich in einer Ethnografie der sich im Aufbau befindlichen Tourismusindustrie der Insel. Das im Titel meines Projekts geführte Stichwort Touring Cultures bezieht sich dabei nicht allein auf Touristen, sondern ebenso die Ideen, Konzepte und Modelle einer nachhaltigen Entwicklung, wie sie durch Verflechtungen zwischen Regionen und Institutionen über Afrika, Asien und Europa verstreut werden. Ziel meiner Feldforschung war ein Blick in dabei auf Rodrigues neu entstehende Netzwerke aus Menschen, Gütern und gesellschaftspolitischen Interessen einer sich global verbreitenden ‚Ideologie der Nachhaltigkeit‘.

Das Interesse an einem nachhaltigen Tourismus setzt Rodrigues in Bezug zu globalen Diskursen um Klimawandel und Umweltschutz. Deren Produzenten und Konsumenten nehmen Einfluss auf Politik, Kultur und Wirtschaft der darin beworbenen Regionen. Die kleinen soziokulturellen Netzwerke der Inselgemeinschaft erweitern sich auf globaler Ebene unter dem Einfluss internationaler Organisationen wie dem United Nations Development Programme (UNDP) oder dem Decentralised Development Programme (DCP) der Europäischen Union. Tourismusunternehmen entwickeln gleichzeitig ein Bild Rodrigues als Ort friedvollen Zusammenlebens von Mensch und Natur, zugeschnitten auf die Anforderungen des internationalen Marktes. Politische und soziale Strukturen der Insel sind jedoch nicht so simpel, traditionell oder ‚exotisch‘ wie darin dargestellt. Die Bevölkerung Rodrigues besteht zu etwa 90 Prozent aus Nachfahren afrikanischer Sklaven. Ebenso viele sind katholischen Glaubens. Dies sind zwei zentrale Unterschiede zu der Bevölkerung ihrer multiethnischen ‚Mutterinsel‘ Mauritius, die seit langer Zeit zu Konflikten führen. Hierbei fördert der Tourismus die Eigenständigkeit der Insel Rodrigues und das Selbstwertgefühl ihrer Bewohner innerhalb der mauritischen Gesellschaft. Tourismus als embodied practice verändert demnach die Menschen und die soziale Struktur der Insel, auch im Bezug auf Einkommensverhältnisse in Familien, neu entstehende Freundschaften zwischen Gästen und Gastgebern oder alltägliche Lebenspraktiken und Körpersprache.

Beispiele aus dem Feld

 Dem oben skizzierten, vielschichtigen Feld meiner Tourismusforschung bin ich auf Rodrigues mittels eines methodenpluralen Ansatzes begegnet. Aus der Fülle an Materialien habe ich drei Beispiele ausgewählt, die in dem mir hier zur Verfügung stehenden Rahmen nur einen knappen Einblick in meine Forschungstätigkeit geben können. Dabei orientierte ich mich an meiner zentralen Fragestellung: Wie verändert sich Rodrigues für den Tourismus? Den Begriff Tourismus fasse ich sehr weit. Touristen etwa können Reisende sein, die in Hotels, Gasthäusern oder Herbergen wohnen, am Strand zelten oder in ihren Segelbooten für einige Tage im Hafen von Port Mathurin ankern. Es kann sich auch um Handlungsreisende handeln, die sich nach dem geschäftlichen Teil noch etwas im Hotel entspannen. Schließlich gibt es Menschen, die für mehrere Wochen oder Monate nach Rodrigues reisen und dort an Projekten mitarbeiten, bezahlt oder auf freiwilliger Basis. Letztere fanden sich vor allem im Kontext von nachhaltiger Entwicklung und Umweltschutz.

Beispiel 1: SHOALS und SEMPA

 SHOALS Rodrigues entstand 2001 als Nachfolgeprojekt einer Initiative der Royal Geographical Society. Begleitet von Gastwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, die Material für meeresbiologische Forschungsarbeiten auf Rodrigues sammeln oder für gewisse Zeit die wissenschaftliche Leitung übernehmen, beschäftigen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von SHOALS auch mit Unterricht für Kinder und Jugendliche in Meereskunde, Schnorcheln und Tauchen. Sie verändern damit nachhaltig das Bewusstsein der Bevölkerung für das Meer und dessen Biodiversität, und für die besondere Bedeutung von Umweltschutz und einen nachhaltigen Umgang mit der Natur.

Fischer bringen einen der Käfige an Land, die zum Fisch- und Krebsfang auf den Grund der Lagune gelassen werden. © C.W.

Fischer bringen einen der Käfige an Land, die zum Fisch- und Krebsfang auf den Grund der Lagune gelassen werden. © C.W.

Fischer bringen einen der Käfige an Land, die zum Fisch- und Krebsfang auf den Grund der Lagune gelassen werden. © C.W.

   Umweltschutz und die Entwicklung eines Bewusstseins dafür sind zentrale Elemente der Tourismusförderung und maßgeblich an der Restrukturierung der Insel für den internationalen Markt beteiligt. Besonders deutlich wurde mir dies, als mir SHOALS die Möglichkeit gab, an einem mehrtägigen Workshop teilzunehmen, der von einer Expertengruppe des UNDP geleitet wurde. Fischer, Tourismusunternehmer und Anwohner des Ortes Port Sud-Est wurden zusammengeführt, um am Projekt SEMPA (South-East Marine Protected Area) zu arbeiten. Entscheidend war an diesem Workshop, dass die Teilnehmenden im gemeinsamen Austausch verstehen sollten, dass die Biodiversität der Lagune nicht mehr durch Tintenfisch-Stechen und Fischfang mit Netzen, Käfigen oder Sprengstoff gefährdet, sondern durch neue Jobs, vom Tourguide bis Umwelttechniker, und ein Bewusstsein für Natur und Nachhaltigkeit geschützt werden muss.

Beispiel 2: Hotelentertainment

Abendessen untermalt von traditioneller Tanzveranstaltung im Hotel Mourouk. © C.W.

Abendessen untermalt von traditioneller Tanzveranstaltung im Hotel Mourouk. © C.W.

Abendessen untermalt von traditioneller Tanzveranstaltung im Hotel Mourouk. © C.W.

   Als Saxophonist habe ich bereits während anderer Feldforschungen in unterschiedlichen Bands gespielt. Auf Rodrigues ergab sich für mich dadurch die Möglichkeit, nicht als Feldforscher, sondern Musiker in Hotels mit Angestellten und Gästen in Kontakt zu treten. Dabei konnte ich hinter die Kulissen der staged authenticity rodriguesischer Kultur und Tradition schauen. Schnell entstanden auch Freundschaften mit lokalen Musikern, die sich im wöchentlichen Turnus in den vier Hotels der Insel bei der Gestaltung des Abendsprogramms ablösten. Ich trat mehrere Male mit zwei Gitarristen und/oder Schlagzeug und Keyboarder in den Hotels Mourouk, Pointe Vénus und Les Cocotiers auf. Entweder lieferten wir die Musikuntermalung für das Abendessen oder den anschließenden Drink an der Bar, oder wir spielten als Begleitband für Tänzerinnen in bunten und langen oder engen und knappen Kleidern.

Beispiel 3: Fotoausstellung „Rodrigues as I see it“

   Ein abschließendes Beispiel zu meinem methodenpluralen Ansatz stellt ein Ausstellungsprojekt dar, das ich gemeinsam mit einer Schulklasse umsetzte. Es ergab sich durch die Mithilfe von Marietta Agathe, in deren Familie ich als Pensionsgast untergebracht war. Sie arbeitete als Lehrerin am Rodrigues College in der Hauptstadt Port Mathurin und erklärte sich dankenswerter Weise bereit, mit mir dieses Projekt umzusetzen. Darin verteilte ich ein Dutzend Einwegfotoapparate an Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 12 und 13 Jahren. Ihre Aufgabe bestand darin, Bilder aus ihrem Alltag aufzunehmen, unter dem Titel „Rodrigues as I see it“. Anschließend bat ich jedes Kind zu jeweils drei seiner Bilder einige erklärende Sätze zu schreiben. Mein Ziel war es, auf diesem Wege Rodrigues aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und ein besseres Verständnis für die Veränderungen auf der Insel zu bekommen. Bilder und Texte waren von einer erstaunlichen Qualität und großem Detailreichtum. Die Ausstellung entstand schließlich mit Unterstützung des Rodrigues College und der Alliance Française.

Eines der Bilder mit zugehörigem Text aus der Ausstellung „Rodrigues as I see it“. © C.W.

Eines der Bilder mit zugehörigem Text aus der Ausstellung „Rodrigues as I see it“. © C.W.

Eines der Bilder mit zugehörigem Text aus der Ausstellung „Rodrigues as I see it“. © C.W.

Daten und Dank

   Die Insel Rodrigues hat eine Fläche von 109 km2. Sie ist vulkanischen Ursprungs, von einer etwa 240km2 großen Lagune umgeben und liegt ca. 1 1/2 Flugstunden bzw. 560km östlich von Mauritius. Bei ihrer offiziellen Entdeckung durch den Portugiesen Diego Rodriguez im Jahre 1528 war sie unbesiedelt. Ihre höchste Erhebung ist der Mont Limon mit 355m. Heute wird Rodrigues von etwa 35 000 Menschen bewohnt. Nochmal so viele Rodriguer leben auf Mauritius, etwa 10 000 in Australien.

Meine Feldforschung dauerte vom 06. Januar bis 24. Juli 2009. In dieser Zeit legte ich mit dem Motorrad knapp 4000km auf der Insel zurück. Ich führte 24 Interviews, teilweise in mehreren Sitzungen und über mehrere Stunden. Zweimal reiste ich nach Mauritius. Beim zweiten Besuch der ‚Mutterinsel‘ begleitete ich die rodriguesische Association Tourisme Réuni (A.T.R.) zu ihren Verhandlungen um günstigere Flugtickets mit der mauritischen Regierung und der Fluggesellschaft AirMauritius, die als einzige die kommerzielle Flugverbindung zwischen Rodrigues und Mauritius anbietet.

Ich möchte an dieser Stelle den Verantwortlichen der Graduiertenschule Society and Culture in Motion für die großzügige finanzielle Unterstützung danken, die diese Forschung ermöglicht hat. Mein besonderer Dank gilt Professor Burkhard Schnepel für inhaltliche Kritik und Anregungen sowie Dr. Hagen Findeis für die administrative Betreuung.

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