Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Dr. Manja Stephan

Dr. Manja Stephan

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assoziierte Doktorandin (Stipendiatin 10/2007 - 03/2008)
Verteidigung: 02.06.2009
Prädikat: magna cum laude

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Dr. Manja Stephan

Sinziger Str. 2
10138 Berlin

Telefon: ++49 (0) 176 / 633 371 06

Moralerziehung, Islam und Muslimsein in Tadschikistan zwischen Säkularisierung und religiöser Rückbesinnung

betreut von Prof. Dr. Chris Hann, Prof. Anke von Kügelgen

Gefördert durch die Volkswagenstiftung von 01.09.2002 bis 30.11.2005

Die postsozialistische Transition brachte neben der Umgestaltung der zentralasiatischen Gesellschaften  nach den Prinzipien der marktwirtschaftlichen Ökonomie und der demokratischen Staatsform auch Entwicklungen  mit sich, die sich mit dem Zerfall sozialer Geflechte und sozialer Instabilität beschreiben lassen. Dies  zusammen mit einem allgemeinen Verlust des Glaubens an die Ideologie des Sozialismus hat in den neuen  zentralasiatischen Staaten eine Suche nach Werten ausgelöst, die zum einen aus der "Krise der Moral"  führen und zum anderen gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken sollen.
Diese Wertesuche ist Teil eines umfassenden dynamischen Selbstfindungsprozesses, bei welchem lokale,  kulturelle, religiöse und nationale Identitäten neu ausgehandelt werden.

Im gegenwärtigen Tadschikistan erweist sich die Moralisierung der Bevölkerung als ein zentraler  Kristallisationspunkt in der Auseinandersetzung zwischen traditionellen, modernen, religiösen und  säkularen Werten. Die sozio-ökonomischen Veränderungen auf der einen Seite, und der Verlust sozialer  Sicherheit und gesellschaftlicher Integrität insbesondere im Zusammenhang mit den blutigen  Bürgerkriegsereignissen der Jahre 1992-97 auf der anderen Seite bilden den Rahmen für die vehementen  Forderungen nach einer moralischen Erziehung der jungen Generationen in allen Bereichen der tadschikischen  Gesellschaft.
Der entstandene Moraldiskurs trägt dem existierenden Wertepluralismus in der tadschikischen Gesellschaft  Rechnung: Auf der einen Seite fordert die Bildungselite des Landes eine Rückkehr zur "östlichen Moral"  der Vorväter. Mit der Rückbesinnung auf die klassische persische Kulturtradition soll das sowjetische  Erbe mit seinen "fremden" bzw. "russischen Werten" überwunden und die Jugend wieder näher zu den  Moralvorstellungen und Werten der vorsowjetischen Vergangenheit gebracht werden. Zur gleichen Zeit  bedient sich auch die gegenwärtige Regierung des Landes aus dem kulturellen Erbe der persischsprachigen  Vorfahren. Sie untermauert damit ihren Entwurf eines neuen Moralkonzeptes, das ihre Bestrebungen, die  tadschikische Gesellschaft zu säkularisieren und die tadschikische Nationalidentität zu festigen,  unterstützt.
Auf der anderen Seite resultiert die Öffnung Tadschikistans hin zu internationalen Märkten und die  Demokratisierung der Gesellschaft in einer verstärkten Orientierung an westlichen Wertesystemen. Moderne  Werte wie Demokratie, Pluralität, Toleranz, individuelle Freiheit, Gleichberechtigung füllen zunehmend den  öffentlichen Raum und wetteifern mit neuen Islaminterpretationen und traditionellen Vorstellungen vom  Muslimsein um die Deutungshoheit bei der Suche nach gesellschaftlich verbindlichen Werten.

Vor diesem Hintergrund untersucht mein Dissertationsprojekt moralische Erziehung (tarbiya) in der  sunnitisch-muslimischen Bevölkerung in Dushanbe, der Hauptstadt Tadschikistans. Der lokalsprachliche  Begriff tarbiya kennzeichnet einerseits ein Feld sozialer und moralischer Praktiken, die verschiedene  Formen des Lernens und der Identifikation durch die Partizipation an verschiedenen kulturellen Manifestationen  umfassen. Andererseits verbinden sich damit lokale Vorstellungen und Konzepte darüber, was eine moralische  Person auszeichnet und wie junge Menschen dazu geformt werden sollen.

Den Kern moralischer Erziehung bildet die Vermittlung und Reproduktion von odob - d.h. Moral, Moralität,  Sittlichkeit, Kultiviertheit usw. Das Erlernen und Praktizieren des damit verbundenen Korpus an sozialen  Normen, Werten und moralischen Prinzipien ist ein wichtiger Aspekt geschlechterspezifischen Rollenverhaltens  und bildet zudem das Fundament lokaler, religiöser und nationaler Identifikationen.

Moralische Erziehung in Tadschikistan ist eng verbunden mit dem Lebenszyklus. Folglich konzentriert sich  das Projekt konzentriert insbesondere auf den Zeitpunkt der einsetzenden Reife (baloghat) - ein Stadium  in der moralischen Entwicklung junger Menschen, in dem lokale Geschlechterkonzeptionen, formale religiöse  Wissensvermittlung und die Ausübung der religiösen Pflichten (namoz, ruza) zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Die Untersuchung erfolgt in den Bereichen Familie, Schule und Moschee. Diese drei sozialen Domänen stellen  nicht nur die zentralen Sozialisationsinstanzen in der moralischen Entwicklung junger Menschen dar. Sie  eignen sich zudem als Projektionsfläche der Konflikte zwischen traditionellen und modernen, religiösen und  säkularen Werten: Sie bilden "moralische Räume", in denen die verschiedenen Werte aufeinandertreffen,  miteinander konfligieren und in der alltäglichen Praxis der lokalen muslimischen Bevölkerung synthetisiert werden.

In der familiären Erziehungspraxis findet sich ebenso wie in der Praxis privater religiöser Kurse (sabaq), die im  häuslichen Bereich oder in der lokalen Moschee stattfinden, ein treffendes Beispiel, um die starke Überlappung  der religiösen und moralischen Sphäre zu verdeutlichen: In der Familie sind die Prozesse moralischen Lernens  eng mit lokalen Vorstellungen von Muslimsein und der religiösen Praxis verknüpft. In den privaten religiösen  Kursen (sabaq) ist das textbasierte islamische Lernen untrennbar mit der Vermittlung moralischer Kodes und  Geschlechterkonzepte der lokalen Gemeinschaft verbunden.
Die moralische Erziehung im Bereich staatlicher Schulen ist eng mit zwei Ethikfächern (Odobnoma, Odobi Oiladory)  verknüpft, die in die Curricula staatlicher Schulen aufgenommen wurden. Über den schulischen Ethikunterricht  werden junge Menschen mit einer säkularen Konzeption von odob konfrontiert, die Teil der nationalen Ideologie  ist und sich in den Vorstellungen darüber, was "gute tadschikische Bürger" bzw. "gute zukünftige Eltern"  auszeichnet, niederschlägt. Das Nebeneinander moralischer Erziehung in der religiösen und säkularen Sphäre  führt zu der Frage, was als säkulare Werte präsentiert wird und inwiefern diese Werte Bezug auf die muslimische  Mehrheit der tadschikischen Gesellschaft nehmen.

Akademischer Werdegang

2003-Promotionskandidatin und assoziiertes Mitglied der Forschungsgruppe "Religion und Zivilgesellschaft" am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale
2002-2005Promotionsstipendiatin der Volkswagenstiftung im internationalen Forschungsprojekt "Islamische Bildung in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten" am Seminar für Orientalistik und Islamwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum
2002

Magistra Artium in Mittelasienwisschenschaften an der Humboldt- Universität Berlin, Magisterarbeit zum Thema "Oshibibiyon und mushkulkusho: Heiligenlegenden und religiöse Frauenrituale in Buchara"

1997-2002Studium der Mittelasienwissenschaften am Zentralasienseminar der Humboldt-Universität und Ethnologie an der Freien Universität Berlin
1994-1997Studium der Ethnologie, Zentralasienwissenschaften und Russistik an der Universität Leipzig

Empirische Forschungsprojekte

2002-2004Tadschikistan (Duschanbe):
Feldforschungen zum Dissertationsprojekt "Moralische Erziehung, religiöse Wissensvermittlung und Islam im gegenwärtigen Tadschikistan"
2000Usbekistan (Taschkent, Samarkand, Buchara):
Studienexkursion zum Thema "Nationale Minderheiten in Usbekistan", organisiert vom Zentralasienseminar der Humboldt-Universität Berlin
2000Usbekistan (Buchara):
Feldforschung zur Magisterarbeit: "Heiligenverehrung und religiöse Praxis von Frauen in Buchara", selbstständiges Forschungsprojekt
1997Usbekistan (Namangan):
Feldforschung zum Thema "Heiligenkult und Pilgerwesen im Ferghanatal", Studienprojekt am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin
1996Usbekistan (Choresm):
Sprachreise und empirische Studien zur lokalen religiösen Praxis

Publikationen

  • (2006),"’You come to us like a black cloud’: Universal versus local Islam in Tajikistan", in: Chris Hann & the "Civil Religion" Group (ed.), The Post socialist Religious Question: Faith and Power in Central Asia and East - Central Europe. Münster.
  • "Schulischer Ethikunterricht in Tadschikistan: Wertevermittlung und Moralerziehung zwischen staatlichen Interessen und gesellschaftlichen Realitäten", in: Raoul Motika, Michael Kemper, Anke von Kügelgen (Hrsg.). Islamische Bildung in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden (erscheint 2007).

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