Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

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Bericht von der Erasmustagung "Geschichte und Gegenwart der europäischen Identität"

von Stefan Knauß M.A.

Bericht über die Erasmus-Tagung: "Geschichte und Gegenwart der europäischen Identität" / "Storia e Presente della Cultura Europea", Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, 16.-17.11.2011

Zur Bestätigung, Vertiefung und Ausweitung der sehr erfolgreichen Kooperationsbeziehungen des Seminars für Philosophie und der Graduiertenschule „Gesellschaft und Kultur in Bewegung“ mit italienischen Partneruniversitäten fand am 16. und 17.11. 2011 die Erasmustagung Geschichte und Gegenwart der europäischen Identität / Storia e Presente della Cultura Europea an der Martin-Luther Universität statt. Damit steht die Veranstaltung in Kontinuität zu den erfolgreichen Sommerschulen der Jahre 2008 und 2010. Die Überlegungen der Sprecher und Teilnehmer, die überwiegend aus Neapel und Halle kamen, wurden um einen Gastbeitrag des ehemaligen Ministerpräsidenten und Präsidenten der europäischen Kommission Romano Prodi erweitert. Prodi erhielt am ersten Tag der Konferenz von den Wirtschafswissenschaften der Hallenser Universität die Ehrendoktorwürde für sein wissenschaftliches Oeuvre. Der Festakt symbolisierte auf diese Weise Ziel und Geist der Tagung, indem er die deutsch-italienische Kooperation im Sinne einer gemeinsamen europäischen Kultur zum Ausdruck brachte. Die Graduiertenschule Gesellschaft und Kultur in Bewegung erwies sich daher als idealer Ort um gesellschaftliche und politische Veränderungen im Herzen Europas zu reflektieren und zu diskutieren.

Fabrizio Lomonaco machte gleich zu Beginn der Tagung deutlich, dass es sich bei einer gemeinsamen europäischen Kultur weder um eine homogene, einheitliche Lebensform handeln könne, noch dürfe. Der Mittelmeerraum als Raum des Konflikts, aber auch der Begegnung unterschiedlicher Kulturen spiegele daher auf geeignete Weise wieder, dass bei aller Einheit, die Vielheit der der europäischen Kulturen nicht vergessen werden darf. Alexander Aichele setzte diese nachdenklich Haltung fort, insofern er dafür argumentierte, dass die idealisierte Vorstellung der griechischen Kultur und insbesondere der attischen Demokratie als Wiege der europäischen Kultur nicht ohne weiteres als Paradigma für europäische Identität verwendet werden können. Lässt man sich auf die Vorstellung der Demokratie ein, die Thukydides in der Totenrede des Perikles schildert, akzeptiert man unter Umständen die Nachteile einer elitären, auf einer Sklavenhaltergesellschaft fußenden, imperialistischen Lebensweise ohne Minderheitenschutz mit ein. Als Kontrapunkt gegen diese kritische Lesart der Antike lieferte Marco Ivaldo eine Verteidigung des deutschen Idealismus, der mit seinem Ziel der freien Bildung des Menschen zum einen ein philosophischen Ideal liefere, dass zum anderen auch den humanistischen Zielpunkt des europäischen Einigungsprozesses darstellen könne. Überraschend musste daher auch Arne Moritz‘ Präsentation der Gedanken von Friedrich August von Hayek wirken. Obwohl Hayek gegenwärtig als gewissenloser Vertreter eines neoliberalen Turbokapitalismus gehandelt wird, lassen sich in seinen Gedanken zu Europa im Jahre 1939 Verbindungen zum politisch geeinten Europa, wie es beispielsweise Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden vor Augen hatte, nachweisen. Eine ökonomisch-administrative Einigung muss hiernach gar nicht als Gegensatz oder als Aushöhlung einer gemeinsamen politischen Identität inszeniert werden, vielmehr beide Prozesse nach einer liberalen Auffassung Hand in Hand gehen. Ein großer europäischer Geist, wie der von Ernst Cassirer, der manchen als einer der letzten Universalgelehrten gilt, steht mit seinem breitgefächerten und universalistisch angelegten Forschungsvorhaben pars pro toto für eine europäische Kultur, die wissenschaftliche Durchdringung mannigfaltiger menschlicher Kulturformen und die freie Debatte darüber zum Ziel hat. Claudia Megale zeigte dies in ihrem Vortrag über Cassirer und nahm damit eine Thema auf, das Marcello Gisondi am nächsten Morgen fortführte: der rege wissenschaftliche Austausch zwischen Deutschland und Italien und die gegenseitige Neugier, einander zu erforschen und zu verstehen. Im Sinne des Mottos der Tagung zeigt auch die Detailanalyse des Lebens und Wirkens von Antonio Banfi, wie ein Studienaufenthalt – im Falle des italienischen Philosophen Banfis, der in Deutschland – dazu beitragen kann, die eigenen Vorstellungen und Werturteile zu Überdenken und gegebenenfalls zu revidieren.

Die Infragestellung und kritische Zurückweisung gleichsam natürlich erscheinender Werturteile, die mit dem europäischen Selbstbild verbunden sind, leistete der Vortrag von Stefan Knauß, der sich im Wesentlichen auf eine Analyse der Moderne, so wie sie von lateinamerikanischen Autoren vorgenommen wird, konzentrierte. Hiernach sei der Kolonialismus und Imperialismus faktisch das Gegenstück zum Renaissance-Humanismus gewesen. Vielleich geht es zu weit hier von einem performativen Widerspruch des europäischen Selbstverständnisses zu sprechen, allerdings ist klar, dass eine Korrektur des europäischen Selbstverständnisses von außen hilfreich und nötig sein kann. Auch Daniele Cantini zeigte, mit seiner anthropologischen Studie über das Europabild jordanischer Jugendliche, dass Europa nicht nur als Ort der politischen Freiheit und des ökonomischen Wohlstands wahrgenommen wird, sondern mit seinen liberalen Auffassungen des Lebens und Konsumstils auch als Gefährdung einer alternativen, möglichweise islamischen Lebensweise aufgefasst werden kann.

Die Tagung kann als erfolgreiche Verstetigung und Vertiefung der deutsch-italienischen Kooperationen der Martin-Luther Universität gewertet werden. Des Weiteren ist sie ein praktischer Beleg für das Zusammenwachsen der europäischen Wissenschaft und einer Kultur der Diskussion unterschiedlicher Auffassungen zur gegenseitigen Befruchtung. Abschließend ist zu bemerken, dass eine Veröffentlichung der Beiträge auf die Initiative von Prof. Fabrizio Lomonaco (Neapel) in der Zeitschrift „Logos“ geplant ist.

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